Der Tote vom Drachenfels

© 2009
Man hatte sich Mühe mit dem Leichnam gemacht, ihm das Blut aus den Haaren gewaschen und ihm ein kostbares Totenhemd verpasst. Die Augen geschlossen und die Hände auf der Brust gefaltet, wirkte Claus beinahe wie ein Schlafender. Ein Schlaf, aus dem er erst am Jüngsten Tag erwachen wird, dachte Gottfried von Unkel, als er am Sarg des Ermordeten stand und betete. Hinter ihm, von den Bänken her, erklang leise das Gejammer der Angehörigen. Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter erfasste Gottfried Heinrich, den Vetter des Toten. Die Lippen zusammengepresst stand dieser da, die Augen auf einen Punkt an der Wand gerichtet.

Gottfried wandte sich zu den Leuten um. »Man hat ihn also auf halber Höhe des Berges gefunden«, zitierte er den Boten, der am Morgen auf dem Michaelsberg erschienen war.
Hermann von Hessen, der Erzbischof von Köln, hatte diesen zu ihm ins Kloster gesandt. Seit Jahrzehnten herrschte auf dem Drachenfels ein Familienkonflikt, nun war Claus nach Jahren, in denen er dem Bischof von Trier gedient hatte, zurückgekehrt, und plötzlich war er tot?
Gottfried musterte die Menschen, die er her beordert hatte. Eigentlich wäre er nach der Laudes und dem Frühstück nach Nonnenwerth gereist, um im Auftrag Johanns, des Abtes, dort nach dem Rechten zu sehen. Stattdessen stand er nun hier, dem Befehl Hermanns gehorchend. »Niemand von euch weiß, wie Claus ums Leben gekommen ist?«

Kopfschütteln. Ein paar wenige senkten ihre Häupter. Für einen kurzen Moment war es Gottfried, als sähe Heinrich ihn an. Dann fixierte er wieder den Punkt an der Wand.
»Er wollte wohl zu euch herauf«, richtete Gottfried das Wort an die Anwesenden. »Wer von euch fand ihn?«
»Ich fand ihn.«
Mucksmäuschenstill wurde es in der Kapelle, als Heinrich das Wort ergriff.
»Ich war mit ein paar Leuten unterwegs nach Königswinter, da fand ich ihn.« Heinrich blickte sich um. Seine Getreuen nickten.
»Ihr fandet Euren Vetter erschlagen?«, bohrte Gottfried. »Gab es Spuren von einem Kampf? Soweit ich weiß, war Claus jemand, der das Schwert zu führen wusste.«
»Ich fand ihn erschlagen. Möglich, dass er mit seinen Gegnern kämpfte ...«
»Meint Ihr, es waren Räuber?«
Heinrich antwortete nicht.
»Was mir seltsam erscheint«, Gottfried kratzte sich am Kinn, »Claus ist ohne Begleitung geritten?«
»Vielleicht wollte er sich endlich mit uns versöhnen«, rief unvermittelt Heinrichs Frau. Sie warf den Kopf in den Nacken und ergriff den Arm ihres Gemahls.
Gottfried lächelte und nickte ihnen zu. »Vielleicht. – Aber wäret Ihr, Heinrich, dazu bereit gewesen?«

Wieder erntete er das Schweigen des Befragten. Gottfried blinzelte. Er musste den Fundort sehen und mit jedem Einzelnen hier unter vier Augen sprechen. Die seit Generationen anhaltende Fehde unter den Verwandten bescherte ihm kein gutes Gefühl. Heinrichs abwesender Blick vorhin und das Gehabe seiner Gattin deuteten auf Spannungen hin. Andererseits: Wenn es tatsächlich Räuber gewesen waren, die für Claus’ Tod verantwortlich waren – er verlor kostbare Zeit! Und wo blieben die Mannen von Claus, nach denen er geschickt hatte? Kuno, den er beauftragt hatte, sie zu holen, war noch nicht zurück. Irgendetwas stimmte hier nicht. Versonnen betrachtete Gottfried die Gesichter der weinenden Frauen. Waren diese Tränen echt?

»Verzeiht, Vater«, riss Heinrichs Stimme ihn aus seinen Gedanken, »meine Leute haben zu arbeiten. Braucht Ihr uns noch länger?«
»Ihr müsst verzeihen«, rief Gottfried und verbeugte sich vor dem Burggrafen. »Wenn Ihr – oder jemand Eurer Getreuen – mich zum Tatort führt, so will ich, vorerst, schweigen.« Die Kälte, mit der Heinrich den Tod seines Vetters abtat, ließ ihn erschauern.

Es war der Burggraf selbst, der den Benediktiner zum Tatort führte. Als sie etwa die Hälfte des Burgpfades zurückgelegt hatten, parierte Heinrich sein weißes Ross und deutete auf die Lichtung, die vor ihnen lag. »Dort vor dem Drachenbau fand ich den Leichnam meines Vettern.« Er schürzte die Lippen.
Gottfried stieg aus dem Sattel und betrachtete die Stelle genauer. Das Gras war niedergetrampelt, womöglich war hier vor nicht allzu langer Zeit gekämpft worden. Der Erdboden auf der Mitte der Lichtung war noch von Blut gefärbt. War es möglich, dass die Mörder in der Höhle auf Claus gewartet hatten? Warum aber hatte Heinrich nichts unternommen, sie zu finden? Auch jetzt wirkte der Mann, als ginge ihn der Tod von Claus nichts an.

»Der Tod Eures Vettern berührt Euch nicht sehr, oder?«
Heinrichs braune Augen blitzten. »Ich muss gestehen, nein.«
»Verstehe.« Gottfried nickte und wandte seine Aufmerksamkeit der Höhle zu, in welcher der Legende nach der Drache gehaust hatte, den Siegfried tötete, um in seinem Blut zu baden und – beinahe – unverwundbar zu werden. »Claus war alles andere als ein lieber Verwandter von Euch, wie ich hörte.«
»Allerdings, Vater.«
Einen Blitzangriff hatten seine Mörder von der Höhle aus nicht führen können, wie Gottfried feststellte. Claus hätte sie sehen müssen, es wäre ihm noch Zeit geblieben, umzukehren – wenn er tatsächlich allein gereist war.
»So werdet Ihr auch gehört haben, dass mein braver Vetter einer der Anführer der ›Wölfe‹ war, die sich gegen Ruprecht und somit gegen das Domkapitel stellten.« Verächtlich spie Heinrich aus.

Gottfried ging zu ihm zurück und nickte. »Doch sicher habt Ihr nach seinen Mördern suchen lassen. Ich verstehe. Leider erfolglos.« Er ergriff die Zügel seiner braunen Stute und schwang sich auf ihren Rücken.
»Claus hat mich wieder und wieder bis aufs Blut gereizt«, gestand Heinrich. »Aber ... er war mein Vetter.« Gerade wollte er den Schimmel wenden, als jenseits der Lichtung zwei Reiter auftauchten: Kuno und ein Begleiter.
Gottfried bemerkte, wie Heinrich neben ihm erstarrte. Auch der Fremde schien zu erschrecken. [...]


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